Buch 2, Kapitel II: „Aussatz im Mittelalter“


Aussatz in der mittelalterlichen Gesellschaft

Als die Kreuzzugsheere Palästina erreichten, um das Heilige Land von den Kriegern Mohammeds zu befreien, fanden sie dort eine weitverbreitete Krankheit einheimisch, die schon in der Bibel Erwähnung fand. Die Hygienebestimmungen des mosaischen Gesetzes gaben den Israeliten strenge Anweisungen im Bezug auf den Umgang mit dieser Krankheit und davon betroffener Personen. Lepra, vom griechischen Wort Lepis (λεπις), was soviel wie Schuppe bedeutet, gehört demnach zu den ältesten schriftlich dokumentierten Krankheiten überhaupt. Im deutschsprachigen Raum war sie bis ins 19. Jahrhundert überwiegend als Aussatz bekannt, veraltet im Niederdeutschen auch als Mieselsucht bezeichnet. Heimkehrende Kreuzfahrer schleppten die Krankheit in größerem Umfang in ihre jeweiligen Heimatregionen ein. Eine neue Erscheinung war Aussatz bzw. Lepra in Europa allerdings nicht. Schon lange vor den Kreuzzügen trat die ansteckende Infektionskrankheit auf. Moderne paläopathologische Forschungen weisen dies zweifelsfrei nach. Der bislang älteste genetisch nachweisbare Fund unserer Breitengrade datiert auf die Zeit um das fünfte Jahrhundert und wurde auf dem angelsächsischen Friedhof in Great Chesterford, Essex, in Groß Britannien nachgewiesen. Wenn die Krankheit somit auch schon lange vorher bekannt war, blieb sie doch zumeist auf regionale Ausbrüche begrenzt und nahm keine epidemischen Ausmaße an. Sie wurde zwar von Mensch zu Mensch übertragen, hierzu mussten aber eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. In den Köpfen der abergläubischen Menschen grassierte dennoch die Furcht vor Aussatz und wer konnte es ihnen verdenken? Die Betroffenen litten im Verlauf der Infektion an schwersten Entstellungen der Extremitäten und besonders des Gesichts. Selbst wenn lange Zeit die wenigsten Zeitgenossen je einen Erkrankten von Angesicht zu Angesicht sahen, verbreitete sich die Kunde davon in Erzählungen und Schauermärchen und wurde so zum Schreckgespenst der Zeit. Im Verlauf des späten Hochmittelalters, mit den erwähnten heimkehrenden Kreuzfahrern, wurde die Krankheit erstmals  wirklich in größerem Stil verbreitet und von einer breiten Masse erlebt. Indem es sogar Vertreter aus dem populären Kreis der Kreuzfahrer traf, von Fall zu Fall waren auch Angehörige aus dem hohen Adel darunter, bekam die Wahrnehmung für diese tückische Krankheit eine völlig neue Qualität.


Typisierung und Diagnose

Mit den Mitteln damaliger Heilkunst galten betroffene Personen als unheilbar. Selbst mit den zunehmenden medizinischen Erkenntnissen durch die Jahrhunderte, kam man der Krankheit nicht bei. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden wirksame Therapien gegen Lepra entwickelt. In den 1970’er und 80’er Jahren gab es schließlich entscheidende Durchbrüche in der medikamentösen Behandlung und Bekämpfung des eigentlichen Auslösers. Ausgerottet ist die durch das Mycobacterium leprae Infektionskrankheit bis heute dennoch nicht, wenngleich die Zahl der gemeldeten Infizierten von 1985 bis heute stark zurückgegangen ist, gibt es zu Beginn des 21. Jahrhundert immer noch rund 200.000 Neuinfektionen pro Jahr.
Die allgemeine Angst vor Ansteckung war in der mittelalterlichen Gesellschaft so tiefsitzend, dass viele Arten von nicht ansteckenden bzw. nicht letalen Hautausschlägen, z.B. Lupus (Schmetterlingsflechte) oder Psoriasis (Schuppenflechte) zum Aussatz gerechnet wurden. Es ist unbekannt, wieviele auf diese Weise irrtümlich mit Lepra in Verbindung gebracht wurden und sich erst in Folge mit Lepra infizierten. Die Krankheit begann mit einer auffallenden Rötung der Haut, damals arge Röte genannt, der allerlei Formen von Hautausschlägen folgten, besonders Flecken, Flechten und Grind.
Trotz großer Furcht vor Übertragung, beschäftigte sich die mittelalterliche Medizin relativ intensiv mit dem Thema und gewann dadurch immerhin einige diagnostische Erfahrung. Seit 1953 klassifiziert man die Krankheit in sechs Formen und schon im Mittelalter unterteilte man sie anhand optisch erkennbarer Variationen, in drei Hauptformen:
1.) Der sogenannte räudige (schorfige) Aussatz, Lepra oder Psora (ψώρα) bei den Griechen, wobei die Haut ausgeprägt rot bis regelrecht und schuppig wurde.
2.) Der weiße Aussatz, Zaraat (צרעת) oder Baras bei Moses genannt, Leuke (Λευκὴ) bei den Griechen. Die Haut war bedeckt mit einem feinen, weißen, staubigen Schorf. Beide Formen waren mit starkem Juckreiz und Hautbrennen verbunden.
3.) Der knollige Aussatz oder die Elephantiasis, wie sie bei den Griechen und Römern hieß. Sie war die schlimmste und schwierigste von allen bekannten Varianten. Es entstanden weniger Hautschuppunogen und Grind, das Jucken und Brennen war wesentlich geringer. Auf der Haut erschienen, besonders im Gesicht, dicke Knollen, die es mittelfristig ganz bedeckten, wodurch die Augen oft scheinbar ganz verschwanden und bald starke anatomische Entstellungen entstanden. Man nannte diese Form in Europa den ruhigen Aussatz, da er durch massive Nervenschädigungen, den Betroffenen nur wenig Leiden in Form von Schmerzen bereitete. Oft gingen die unterschiedlichen Formen ineinander über, was allein schon durch die Natur der aufgezwungenen totalen Isolation von Gesunden und Zusammenlegung mit anderen Erkrankten, zu wechselseitigen Folgeansteckungen untereinander führte.
Bereits in der Antike wusste man, dass die Krankheit bei Berührung ansteckend sei, woraus sich das bei den Israeliten von Moses vorgeschriebene Absonderungsgebot ableitete, das im Mittelalter auch im christlichen Abendland fortan streng befolgt wurde. Man ging zur vollständigen Trennung der Kranken von Gesunden über. Selbst ihre Leichen wurden nicht auf gewöhnlichen Kirchhöfen bestattet und wenn doch, dann nur an dafür deutlich ausgewiesenen Stellen. Anfangs baute man den Aussätzigen eine Hütte auf freiem Felde, wohin sie buchstäblich ausgesetzt wurden, woraus im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Aussatz entstand. Der Erkrankte wurde unter Androhung schwerster Bestrafung verpflichtet, alle Berührung mit Gesunden zu vermeiden und sich fortan größtenteils selbst überlassen. Als sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts die Zahl der Kranken jährlich erhöhte, gab man diese primitive Art der Absonderung durch einfache Hütten auf und errichtete eigene, nun fest gemauerte Häuser, woraus bald ganze Gebäudekomplexe wurden. Sie waren als Siechenhäuser oder auch Lazarus-Häuser bekannt, denn die Krankheit war ebenfalls als Lazarus-Krankheit geläufig. Übrigens leitet sich das Wort Lazarett indirekt von Krankenhauseinrichtungen dieser Art ab. Vorsteher eines solchen Hauses war der Siechenmeister, der für gewöhnlich selbst ein Infizierter war.
Aus Furcht vor Ansteckung und um der Absonderung willen, wurden alle Aussatzhäuser in einiger Entfernung von Städten und Dörfern angelegt, mit einer hohen Mauer umgeben, jenseits derer sich kein Aussätziger ohne die strengsten Vorsichtsmaßregeln zu beachten, sehen lassen durfte. In sehr seltenen Fällen waren das oder die Gebäude innerhalb der Stadtmauern. Jeder in ein solches Gebäude gebrachte, musste von der übrigen Welt Abschied nehmen, was nicht notwendig hieß, dass er dort eingesperrt war, aber immerhin doch sozial ausgegrenzt von seinem bisherigen Leben. Die härtesten Strafen drohten, wenn er sich in die Gesellschaft der Gesunden mischte. Eine Ehe wurde nicht dadurch getrennt, dass einer der Ehegatten den Aussatz bekam. Es war dem Gesunden freigestellt, dem Kranken an seinen künftigen Aufenthaltsort zu folgen und bei ihm zu wohnen. Papst Gregor IX. († 1241) machte es Ehepartnern später sogar zur Auflage, dem Erkrankten zu folgen, was im Falle von gemeinsamen Kindern, das immerhin die Regel war, dazu führte, dass der gesunde Elternteil bei den Kindern blieb und sich um diese kümmerte. Scheiden lassen durfte man sich von einem Aussätzigen nicht. Theoretisch durften sich Aussätzige in Siechenhäusern oder Leprosorien verheiraten, in der Praxis war dies jedoch selten, denn die Geschlechter wurden für gewöhnlich voneinander getrennt, zumal jeglicher sexuelle Kontakt streng verboten war und hart sanktioniert wurde.
In den Augen des Volkes galt jeder Erkrankte als von Gott verstoßen. Schon Hildegard von Bingen († 1197) vertrat die weitverbreitete These, dass Lepra die Folge eines  gesteigerten Geschlechtstriebes sei. Betroffenen warf man Unzucht vor, wofür Gott sie nun mit dieser Krankheit bestrafte. Damit ein Leproser sofort erkannt werden konnte, erhielt er eine eigene Kleidung von schwarzer Farbe und grobem, sackartigem Stoff. Die Haare wurden ihm abgeschoren. So kenntlich gemacht, war er Gegenstand des Entsetzens für Jedermann.
Wegen der schweren Auswirkungen in Folge der totalen sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung, war die Diagnose ein mehr oder weniger öffentlicher Akt, dem großes Augenmerk geschenkt wurde der man für damalige Verhältnisse mit möglichster Gewissenhaftigkeit nachging. Bei einer städtischen Lepraschau nahm ein Wundarzt (Bader, Barbier, Feldscher), assistiert von drei Beisitzenden, die Untersuchung vor. Gutes, helles Tageslicht war erforderlich, weswegen der Vorgang für gewöhnlich im Freien, in aller Öffentlichkeit vorgenommen wurde.   Ausscheidungen und Haut wurden auf typische Leprazeichen hin untersucht. Im frühen Stadium war die Krankheit schwer erkennbar und von anderen Hautleiden unterscheidbar, weswegen Fehldiagnosen möglich waren. Sicher gab es auch Fälle von Korruption und Bestechung, indem Angehörige oder etwaige Erben ein Interesse hatten, diese oder jene Person aus dem Verkehr gezogen zu sehen. Die mit Aussatz infiziert diagnostizierte Person wurde nach einstimmigem Urteil der Beschauer auf rituelle Weise aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verlor, war er städtischer Bewohner, alle bürgerlichen Rechte.


Das Ritual der Aussetzung

Die Art, wie ein von dieser Krankheit heimgesuchter Mensch aus der Gesellschaft seiner bisherigen Mitmenschen ausgeschlossen wurde, war vom Prozedere  her folgendermaßen:
Der Priester, im Messgewand und mit Weihwasser versehen, begab sich zum Haus des Beklagenswerten, der ihm in seiner vorgeschriebenen Krankenkleidung folgte und in einer Prozession zur Kirche geführt wurde. Ganz zu Anfang geleitete man ihn in seinen Sterbekleidern. Der Priester besprengte während des Ausgangs das Haus mit Weihwasser und wiederholte den Vorgang beim Eingang in die Kirche. Der Kranke begab sich in einen Winkel des Gotteshauses, oder in eine Vertiefung des Chors, abgesondert von den Gesunden, und hörte hier die Messe. In den frühesten Zeiten wurde er mit Lichtern umstellt, wie ein Verstorbener. Es wurde eine Totenmesse und das Requiem für ihn abgehalten. Später wurde dies abgestellt,  er erhielt keine Lichter mehr, statt des Requiem wurde eine normale Messe gehalten, weil man es nicht mit einem Verstorbenen, sondern mit einem Kranken zu tun hatte. Anlässlich dieser Messe wurde der Kranken gedacht und für sie gesammelt. Wollte der Kranke beichten, geschah dies, indem der Pfarrer in einiger Entfernung zu ihm stand.
Nach geendigter Messe gab der Priester dem Kranken das Weihwasser, führte ihn, wenn es nicht regnete, zur Kirche hinaus zum Aussätzigenhaus, oder davor zu jenen erwähnten Hütten der Anfangszeit. Er ermahnte ihn mit christlicher Liebe zur Geduld und stellte ihm das Beispiel Christi und seiner Heiligen vor Augen, sowie die dereinstige Seeligkeit, wenn er seine Leiden mit Ergebung ertrüge. Hierauf empfahl ihn der Geistliche dem anwesenden Volk, dass es ihn mit Almosen bedenke und für ihn bete. Bei kaltem Wetter brauchte der Priester nicht mit über das Feld zu gehen, sondern sprach seine Ermahnungen beim Ausgang aus der Kirche.
Stand der Kranke nun vor der Tür des Hospitals, wo er künftig wohnen sollte, so sprach der Priester ihm die zehn Gebote des Aussätzigen vor:

  • Ich verbiete dir, daß du niemals in eine Kirche gehest, in ein Münster, auf einen Jahrmarkt, in eine Mühle, auf einen Marktplatz, noch in Gesellschaft von Leuten.
  • Ich verbiete dir, daß du dich niemals außerhalb dem Hause ohne
    deine Aussätzigenkleidung sehen lassest, damit man dich erkenne, und du niemals barfuß gesehen werdest.
  • Ich verbiete dir, dass du jemals deine Hände, oder was um oder an dir ist, waschest in einem Bache, oder einem Brunnen, und daß du nie aus ihnen trinkest, und wenn du Wasser zum Trinken willst, so schöpfe es mit deiner Kelle in dein Fäßchen.
  • Ich verbiete dir, dass du nie eine Sache, die du kaufen willst und feilschest, eher berührst, als bis sie dein ist.
  • Ich verbiete dir, dass du nie in eine Schenke trittst; verlangst du Bier, du kaufest dasselbe oder es werde dir geschenkt, so laß es in dein Fäßchen gießen.
  • Ich verbiete dir, einer andern Frau beizuwohnen, als der deinigen.
  • Ich gebiete dir, wenn du auf einen Weg gehest, und begegnest einer Person, die dich anredet, dass du dich unter den Wind stellest, ehe du antwortest, und dass du durch keine enge Gasse gehest, damit wenn du einer anderen Person begegnest, du nicht mit ihr zusammenstößt.
  • Ich verbiete dir, wenn du durch einen Gang gehest, Geländer oder den Strick anzufassen, wenn du keine Handschuhe an hast.
  • Ich verbiete dir Kinder anzufassen oder ihnen etwas zu geben.
  • Ich verbiete dir aus anderen Gefäßen zu essen oder zu trinken, als aus den deinigen, oder in Gesellschaft von andern zu essen oder zu trinken, sie seien denn ebenfalls Aussätzige.

Vorkehrungen für Erkrankte

In den frühesten Zeiten dieser Einrichtungen, als man dem Unglücklichen noch eine Hütte auf freiem Feld baute, bestand die Vorschrift, dass diese mit folgenden Dingen ausgestattet wurden:
Einem Brunnen. Ein Bett, Kissen und Decke, zwei Paar Bettlaken, eine Strohmatte. Eine Axt, ein mit einem Schlüssel verschließbarer Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Licht. Näpfe zum Essen, ein Becken, ein Fleischtopf, eine Klingel, Schuhe, Strümpfe, ein Gewand, eine Pferdedecke, eine Kappe, zwei Paar Tücher. Ein Fäßchen, ein Riemen, ein Löffel, eine Holzkelle.
In den später geschaffenen Aussätzigenhäusern wurde noch für mehr Ausstattung  gesorgt. Das Mitleid mit den Betroffenen aus ihrer eigenen Mitte, es betraf ja für gewöhnlich immer irgendjemandes Vater, Mutter, Geschwister, einen Freund oder Nachbarn, animierte die von der schrecklichen Krankheit verschonten Zeitgenossen zu allerlei Hilfen.
Im vierzehnten Jahrhundert behandelte man das Ganze mit wachsender Einfühlsamkeit. Erfuhr der Pfarrer, dass eines seiner Gemeindemitglieder erkrankt war, mußte er sich Gewißheit darüber verschaffen, entweder durch einen Spruch des geistlichen Richters, oder sonst auf gesetzliche Weise. Er begab sich zu ihm, versuchte ihn zu trösten und moralisch aufzurichten, gab ihm zu bedenken, dass keine körperliche Krankheit zugleich Krankheit der Seele sei. Er verwies ihn auf Gottes Vorsehung und ermahnte ihn, sein Gemüt nicht zu ängstigen, wenn aus Vorsorge, gemäß löblicher christlicher Gewohnheit diejenigen, welche Gott mit dieser Krankheit heimzusuchen beliebte, von der Gesellschaft der Gesunden abgesondert werden. Nachdem ihm schließlich der Tag seiner Absonderung mitgeteilt wurde, machte er dies in der Kirchenvorhalle der Gemeinde bekannt und forderte sie auf, zahlreich zu erscheinen, und dem Unglücklichen ihre Gebete zu widmen.
An dem bestimmten Tage ging der Priester von der Kirche aus mit Superpellicium und Stola angetan, mit vorgetragenem Kreuze und Weihwasser, von der Gemeinde begleitet, zum Hause des Aussätzigen, begrüßte ihn milde, besprengte ihn mit Weihwasser, ermahnte ihn, ihm zu folgen, um die heilige Messe anzuhören, den priesterlichen Segen zu empfangen und die Heilsmittel der Kirche. Während er ihn in Prozession, begleitet von seinen Verwandten und Freunden, zur der Kirche führte, ließ er etwas singen, zumeist Bußpsalmen und  andere Responsorien, welche zur Buße und zur Betrachtung der Barmherzigkeit Gottes anregten. Wenn er dann mit ihm zur Kirchentür kam, besprengte er ihn mit Weihwasser und wies ihm einen Platz außerhalb, zuweilen innerhalb der Kirche an, wenn es sicher geschehen konnte, dass er getrennt von den Gesunden die Messe knieend hören konnte. In gewöhnlichen Kleidern, das Gesicht mit der Kapuze bedeckt, die sich damals an allen Oberkleidern befand, wartete er das Ende ab, beichtete, wenn er es wollte, doch durfte er kein Opfer auf den Altar legen oder sich ihm nähern. Unweit vom Kranken war ein Tisch, auf dem folgende Dinge entweder auf seine Kosten oder auf Kosten des Kirchspiels angeschafft lagen: Kleider, die Lazarus Kleider hießen, eine Klingel, Schelle oder Klapper, ein Handeimer, Handschuhe und ein Quersack, alles vom Priester gesegnet, indem er sprach: „Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn. Gelobet sei der Name des Herrn. Der Herr sei mit euch. Lasset uns beten. Gott, durch dessen Wort alle gesegnet und geheiliget werden, segne und heilige dies Kleid der Demut samt dem übrigen Geräte, dass dein Knecht es gebrauche zur Ehre deines Namens und zum Heile seiner Seele und seines Körpers.“
Darauf überreichte er ihm das Kleid und sprach: „Empfange dieses Kleid, bekleide dich damit zum Zeichen der Demut. Ich verbiete dir von jetzt an ohne dasselbe das Haus zu verlassen, im  Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Nimm diesen Eimer, in welchem du empfangen sollst, was man dir zu trinken reichen wird. Bei Strafe des Ungehorsams verbiete ich dir, aus Bächen, Quellen und gewöhnlichen Brunnen zu trinken, dich nicht darin zu waschen, auf welche Weise es sei, so wenig als deineTücher, Hemden und andere Dinge, welche deinen Körper berührt haben. Nimm diese Klingel als Zeichen, dass dir verboten ist, zu andern Personen zu reden, wenn sie nicht deines Gleichen sind, es sei denn die höchste Nothwendigkeit, und wenn du etwas nötig hast, so fordere es durch diese Klingel, indem du dich von den Leuten zurückziehst unter den Wind. Empfange diese Handschuh, durch welche dir verboten wird, etwas mit bloßen Händen anzufassen, wenn es nicht dir gehört, und unter die Hände Anderer kommen soll. Nimm diesen Queersack, um das hinein zu tun, was dir von wohlhabenden Leuten gespendet wird und trage Sorge, Gott für deine Wohlthäter zu bitten.“
Der Priester spendete ihm nun ein Almosen, worauf er die Umstehenden ermahnte es ihm gleich zu tun. Nun führte er den Erkrankten zum Haus der Aussätzigen, indem er sich das Kreuz und Weihwasser vorweg tragen ließ, gefolgt von der Gemeinde. Auf dem Weg wurde die Litanei gesungen und am Ende Miserere ei und Orata pro eo. Daran knüpften sich Gebete, die üblicherweise bei der letzten Ölung gesprochen werden. Kam die Prozession zum Eingang des Leprosoriums, sprach der Priester: „Hier ist meine Ruhe in Ewigkeit, hier werde ich wohnen, weil ich ihn erwählt habe. Siehe da den Ort, der dir von jetzt an zum Aufenthalt bestimmt ist. Ich verbiete dir, ihn zu verlassen, um dich auf Plätzen und öffentlichen Versammlungsorten treffen zu lassen, wie Kirchen, Märkte, Mühlen, Backöfen, Schenken und ähnlichen Orten. Betrübe dich jedoch nicht, auf solche Weise von den Andern gesondert zu sein, da diese Sonderung nur körperlich ist. Was den Geist, als das Vorzüglichste betrifft, so bist du so oft mit uns, als du betest, und hast Anteil an allen Gebeten unserer Mutter der heiligen Kirche, als wenn du persönlich mit allen Andern beim Gottesdienst zugegen wärest.  Was deine geringeren Notwendigkeiten betrifft, so werden wohlhabende Leute dafür sorgen. Gott wird dich nicht verlassen. Hüte doch wohl, habe Geduld. Gott bleibe bei dir.“
Darauf stellte der Priester das hölzerne Kreuz vor den Eingang des Leprosoriums, sprach zum Volke, empfahl ihm Gebete und Barmherzigkeit gegen alle Kranken, verbot ihnen, dass sie sie weder durch Wort noch  Tat beleidigen, sondern eingedenk des menschlichen Zustandes und des Gerichtes Gottes, diese freigebig unterstützen. Zuletzt erinnert und ermahnt er die Kirchenvorsteher, dass sie dem Kranken wenigstens 30 Stunden lang fleißigen Beistand leisten, damit er nicht wegen des neuen Lebens, der ungewohnten Einsamkeit und gar zu großer Betrübnis in irgend eine schwere Gefahr des Leibs oder Gemüts verfalle.
Die Bräuche und Vorgehensweisen waren nicht überall völlig gleich und wichen in Teilen voneinander ab, namentlich was der Geistliche vor dem Leprosorium zu sagen pflegte, variierte von Gegend zu Gegend. Was die strengen Regeln, Verbote und Ermahnungen bezüglich dem Umgang mit Gesunden betraf, war die Anwendung und Beachtung überall gleich. In den meisten deutschen Ländern, so wahrscheinlich auch in der Mark, sprach der Priester, so wie er das Haus erreicht hatte, die Gebete Memorare novissima tua und In aeternum non peccabis, worauf er ausrief: „Leicht verachtet der alles, welcher sich selbst als sterblich erkannt hat. Hierauf fasste er etwas Erde vom Boden, segnete sie, streute sie dreimal auf den Kopf des Kranken, und sprach: „Sei für die Welt tot, aber lebe wiederum in Gott.“ Er spendete ihm daraufhin Trost mit den Worten aus Jesaja 53, 4: „Jedoch unsere Leiden, er hat sie getragen, und unsere Schmerzen, er hat sie auf sich geladen. Wir aber, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt.“ Zum Abschied gab ihm der Priester noch die tröstenden Worte mit: „Wenn du so wegen der Krankheit deines Körpers dich Christum näherst, so darfst du um so sicherer hoffen, dass dich Gott im Geist erfreuen werde. Das verleihe dir der Allerhöchste, und schreibe dich mit allen Gläubigen in das Buch des Lebens. Amen.“
Die Vorschriften bezüglich des Verhaltens der Kranken blieben gemäß den oben aufgelistete Geboten. Der Text aus Jesaja Kapitel 53, den wir im vorliegenden Fall aus der Elberfelder Übersetzung entnommen haben, wurde im Mittelalter so übersetzt und ausgelegt, dass  alle Aussätzigen von Gott als verstoßen und gedemütigt betrachtet wurden und so bezeichnete man sie selbst in fürstlichen Urkunden, so auch in der Mark. Hatte der Geistliche ihm die Vorschriften gegeben, mindestens mündlich, gegebenenfalls auch in schriftlicher Form, sofern der Betroffene überhaupt des Lesens mächtig war, sagte er ihm nun die zehn Gebote Gottes auf, damit er einst im Himmel mit den Heiligen leben könne. Beides musste öffentlich, in Gegenwart der Gemeinde getan werden. Schließlich erinnerte er ihn daran, dass ein guter Christ angehalten sei, täglich mit Andacht Pater noster, Ave Maria, Credo in Deum , Credo in Spiritum sanctum zu beten, sich zu bekreuzigen und oft zu sagen: „Benedicite Deum, adorate, et gratias Deo reddite.“ Dann rief er dem Kranken zu: „Habe Geduld, wohne in Frieden und Gott sei mit dir.“ Es wurde wohl auch dem Kranken versprochen, wenn er sich lauter halten würde, dass er alsdann schon in dieser Welt die Strafe des Fegefeuers abgalt und in der künftigen sofort ins Paradies eintreten würde, ohne das Fegefeuer durchmachen zu müssen.


Tagesablauf

Die Inkubationszeit, die Zeit bis zum Krankheitsausbruch, konnte Jahre dauern und selbst nach Ausbruch lebten die Erkrankten mitunter längere Zeit unbemerkt unter ihren Familienmitgliedern und Freunden. War ihr Zustand offensichtlich geworden und hatte die Isolation beginnen, ging das Siechtum durchaus noch lange, denn Krankheitsverlauf war langwierig und zumeist starben die Infizierten an begleitenden Erkrankungen vielfältiger Natur. Tuberkulose trat bei einer Großzahl auf und führte dann erst zum Tod. So lange es ihr körperlicher Zustand zuließ, durften sie in abgelegenen Winkeln, entfernt von den bevölkerten Straßen sitzen, und das Mitleid Vorrübergehender durch Benutzung ihrer Klingel oder Klapper erflehen, ohne das sie das Wort ergriffen. Es wurde schon gesagt, bei Nichteinhaltung der Vorschriften, erwartete sie härteste Bestrafung. Es konnte so weit gehen, dass sie bei Zuwiderhandlungen für vogelfrei erklärt wurden, was bei ihrer Lage für gewöhnlich einen alsbaldigen gewaltsamen Tod bedeutete.  Sein persönliches Eigentum verlor ein Aussätziger nicht, doch wegen seiner jetzt vorherrschenden Lebenssituation, nur wenig davon mitnehmen oder anderweitig nutzen. Erben konnte er von einem Verstorbenen nichts. Sollte er ein Edelmann sein, war er unfähig ein Lehn zu empfangen oder eines zu behalten. Öffentliche Ämter verlor er nach einer positiven Diagnose sofort. Die Mehrzahl der Erkrankten stammte jedoch aus den Unterschichten, Fragen ndh Besitz, Erbe, Lehen oder Ämtern stellte sich nicht, denn sie besaßen kaum mehr als das zum Leben notwendige. Es kam zu zahlreichen Fällen, dass sich Mittellose als Aussätzige ausgaben, sich hierzu präparierten, in der Hoffnung als Leproser diagnostiziert zu werden und einen Leprabrief zu erhalten, womit sie Aufnahme in einem der Leprahäuser erhielten, wo sie immerhin regelmäßig Nahrung erhielten, ein beständiges Dach über dem Kopf hatten und allemal besser lebten, als bislang.
In den Leprosorien, den Krankenhäusern der Aussätzigen, bildeten sich regelrechte Gesellschaften von Kranken, die, den Tod vor Augen, von der Welt ausgeschlossen, nur auf sich angewiesen, ein Leben führten, das durchaus mit dem monastischem Leben der Klöster vergleichbar war. Mit der Zeit wuchsen die  Anlagen an und erinnerten mit ihren Kirchen oder Kapellen, den Wirtschaftsgebäuden, Wohnzellen und  Friedhöfen tatsächlich mehr einem Kloster, als einem Krankenhaus. Die Insassen wurden als Brüder und Schwestern bezeichnet, ihre Tracht war schlicht, gleichförmig und nicht zeitgenössischer Mode folgend. Festgelegte Gebete regelten den Tagesablauf.  Wenn auch ein zölibatäres Leben erwünscht war, kam es dennoch zu Geburten unter den verheirateten Paaren, aber auch unter unberheirateten. Die in den Leprosorien geborenen Kinder durften nicht an gewöhnlichen Brunnen getauft werden, wo die Kinder der  Gesunden getauft wurden. Sie hatten hierzu eigene Vorrichtungen. Oftmals wurde ein künstlich angelegter Teich innerhalb ihrer Mauern dazu benutzt. Verlangte ein Sterbender die Sterbesakramente, durfte der Pfarrer es nicht verweigern und musste sie umsonst erteilen. Ihre Toten wurden auf dem eigenen Begräbnisplatz beerdigt, aber die Seelenmessen wurden wie für die sonstigen Glieder der Gemeinde, in der Pfarrkirche gehalten. Trotz der streng auferlegten Abgeschiedenheit ihrer Lebensweise, gab es immer wieder Übertretungen, so dass nach Maßregeln zur Beseitigung der vielen Missstände gesucht wurde. Schon auf dem Dritten Laterankonzil März 1179 unter der Leitung Papst Alexanders III., wurde im 23. Kanon beschlossen, dass neben jedem der Aussätzigenhäuser eine Kirche gebaut und ein Geistlicher dafür angestellt werden sollte. Durch die Belehrung und Zucht eines Kirchenmanns, sollte den vielfachen Problemen begnet werden. Tatsächlich zeigte diese Vorgehensweise eine heilsame Wirkung. Demgemäß erhielt jedes Leprosorium eine eigene Kirche. Ursprünglich bestand die männliche Bevölkerung dieser Häuser nur aus erkrankten Kreuzfahrern, die aus Palästina  zurückgekehrt waren und in diesen ihr Leben beschlossen.
Der Patron der Kreuzzüge und aller Kreuzfahrer war der heilige Georg, wovon das alte Lied Zeugnis gibt (auszugsweise): „O Georgi, miles Christi! Palaestinam devicisti manu tua valida. Ortus tuus generosus, actus tuus bellicosus, fides erat fervida ...“). Eben darum wurde er auch der Patron aller Leprosorien und ihrer Kirchen, denn die kranken Kreuzfahrer behielten ihren Heiligen bei. Später, besonders als die Bestimmung dieser Gebäude eine andere wurde, hießen alle diese Kirchen Georgenkirchen, und die Krankenanstalten Georgs-Hospitäler. Zwar war das Aussätzigenhaus in Spandau anfangs dem heiligen Lazarus gewidmet, da der im Evangelium erwähnte Lazarus aber kein Kalenderheiliger war, wurde es später ebenfalls ein Georgshospital. All Leprosorien, mit sehr wenigen Ausnahmen, lagen außerhalb der Städte.
In der Mark Brandenburg hatte folgende Stadtkommunen eine derartige Einrichtung: Osterburg, Tangermünde, Salzwedel, Bezendorf, Stendal, Seehausen, Werben, Gardelegen, Perleberg, Pritzwalk, Wittstock, Putlitz, Kyritz, Neu Ruppin, Nauen, Berlin, Spandau, Bernau, Strausberg, Neustadt-Eberswalde, Freienwalde, Mittenwalde, Müncheberg, Frankfurt an der Oder, Templin, Königsberg in der Neumark, Soldin, Friedeberg, Falkenburg, Arnswalde, Drossen, Crossen, Züllichau. Fast von keinem dieser Hospitäler wissen wir, wann es erbaut wurde. Die Entstehung muß aber nach allem Angeführten, in die Zeit der Kreuzzüge oder bald danach fallen.
An der Städteliste, die praktisch alle größeren Städte der Mark erwähnt, erkennen wir sowohl die flächendeckende Verbreitung der Krankheit einerseits, wie andererseits die getroffenen Vorkehrungen der Kommunen, den Betroffenen, trotz ihrer Trennung und Isolation vom bisherigen Leben, Versorgung und Unterbringung bereitzustellen. Die Zeiten, wo ein Leprakranker  in eine Hütte ausgesetzt wurde, wo man ihn seinem Schicksal überließ, waren vorbei. Man erlaubt ihnen zwar zur Bestreitung ihres Unterhalts, damit sie nicht dem Hungertod ausgesetzt waren, an bestimmten Wochentagen und wie schon erwähnt, in abgelegenen Straßen der Städte zu betteln, doch musste sie unter allen Umständen jede Berührung, selbst jedes Wort vermeiden. Durch ihre vorgeschriebene Kleidung, ihre Klingel, Rassel oder Klapper, waren sie in jeder Stadt leicht zu erkennen und zu hören.


Lepra verschwindet in Europa

Mit Errichtung der Leprosorien verschwanden die Erkrankten dennoch nicht völlig aus dem Stadtbild, doch waren sie nun nicht mehr zum Betteln gezwungen, gleichwohl es ihnen, mit Ausnahmen, weiterhin gestattet blieb. In den Hospitälern erhielten sie drei Mahlzeiten am Tag, zweimal die Woche wurden sie gebadet, womit es ihnen materiell weitaus besser ging als vielen ihrer gesunden Zeitgenossen, die mit Tagelöhnerarbeiten oder ganz mittel- und obdachlos, buchstäblich vom Hand in den Mund lebten. Es wundert nicht, dass es unter den Ärmsten zu allerlei verzweifelten Versuchen kam, sich als vermeintlich Erkrankte in die Sanatorien einzuschleichen, um dadurch der eigenen wirtschaftlich Not zu entfliehen. Erstaunlich genug, fanden sich freiwillige Helfer, die in den Leprosorien Arbeit an den Kranken taten. Sie verstanden es als Dienst an Christus.
Für die städtischen Kommunen war der Betrieb der Leprosorien eine nicht zu vernachlässigende finanzielle Belastung und doch nahm man die Kosten auf sich, um hierdurch die Isolation der Erkrankten zu gewährleisten und eine Verbreitung einzudämmen und tatsächlich war die Krankheit durch diese restriktiven Maßnahmen seit dem 15. Jahrhundert rückläufig und im Laufe des 16. Jahrhundert in Mitteleuropa weitestgehend ausgerottet. Komplett trugen die Städte die Kosten für gewöhnlich nicht und so blieb stets die Abhängigkeit von mildtätigen Spendern, weswegen die meisten Einrichtungen entlang von bekannten Pilgerwegen entstanden. Die Angst vor neuen Ausbrüchen blieb auch nach Rückgang und praktischem Verschwinden der Krankheit lange Zeit bestehen, und so hielten sich die erbauten Einrichtungen noch eine Weile, bevor sie Zug um Zug einer neuen, meisten nur geringfügig modifizierten Bestimmung übergeben wurden. Aus dem Leprahäusern wurden allgemeine Sanatorien, gelegentlich auch städtische Armen- und Altenhäuser.


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